Missing (2024) | Film, Trailer, Kritik (2024)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Ein Ehepaar gefroren in der Zeit

Ein verschwundenes Kind. Eine trauernde Familie. Daneben: Kameras und die Gesamtheit des journalistischen Apparates. So simpel gestaltet sich der Aufbau des japanischen Films „Missing“. Dieser mag zwischen „Missing Person“- und „Whodunit“-Klischees schweben, doch auf dem Boden der Tatsachen fügen sich die Puzzleteile zu einer bösen Medienkritik zusammen.

Saori (Satomi Ishihara) und ihr Ehemann (Munetaka Aoki) haben vor sechs Monaten ihre Tochter verloren. Wahrscheinlich war es eine Entführung – Saoris Bruder (Yusaku Mori) erinnert sich an einen weißen Van, kurz bevor sie verschwand. Diese Aussage wird sich noch ändern; Zeugen sind unzuverlässig, die Zeit läuft, und sie nagt gleichzeitig an den Kräften. Das einzige, was konstant zu bleiben scheint, ist Saoris Hoffnung. Neben dem Sisyphus-artigen Flyerverteilen versucht sie ebenfalls, über Nachrichtensendungen auf den Fall aufmerksam zu machen – eine Dynamik, die schnell außer Kontrolle gerät.

Missing ist ein filmisches Triptychon, das beweist, wie Thema, Inhalt und Ästhetik differieren können. Die zu Tränen rührende Geschichte der verlorenen Tochter wird zum Vehikel einer subtilen, aber potenten Journalismuskritik. Regisseur Keisuke Yoshida ist dabei zu keinem Augenblick satirisch, sondern reiht Bild an Bild, Ausschnitte an Realität; als Befragung mit viel Spielraum und Fingerspitzengefühl. Die wirkliche Klasse des Films zeigt sich jedoch auf der dritten Ebene des Triptychons: der Ästhetik. Missing friert das Ehepaar allegorisch in der Zeit ein. Weder zerstreitet es sich noch kann es loslassen. Keine Uhr tickt. Das obsessiv-repetitive Flyerverteilen, das unabdinglich immer und immer wieder vollzogen wird, lässt das Ehepaar aus jeder zeitlichen Kontinuität fallen. Mitleid fühlt man für diese zerstörten Existenzen. Man beginnt, hinter jedem Schnitt einen weiteren Jahressprung zu vermuten – Hoffnung schwindet. Wo nur ist dieses Kind?

Neben den Flyern gibt es ebenfalls eine Website, dort können Hinweise und Kommentare abgegeben werden. Doch schnell schwinden die nützlichen Nachrichten; sie weichen Hass und Trolls. Eine interessante Assoziation, die sich hier aufdrängt, ist die Pilot-Episode der Techno-Twilight-Zone Serie Black Mirror: Der Wille des Volkes. In dieser wurde gezeigt, wie die Meinung des Volkes, abgebildet durch Umfragen und O-Töne, stetig Subjekt von Manipulation und Kehrtwenden ist. Missing nimmt dieses Motiv und führt es in die Neuzeit, in der Hassnachrichten und Projektionen von bornierten Rollenbildern stetig in unser Leben eindringen können. Mutter Saori war auf einem Konzert, als ihre Tochter entführt wurde. Dieser Informationsschnipsel reicht, um einen sh*tstorm auszulösen. Sie sei die Schuldige, eine schlechte Mutter; wer lasse seine Tochter denn auch alleine? Yoshida zeigt uns anhand dieser Perversion, wie schmerzhaft banal unsere Werte auf uns zurückfallen können. Das Bild der Mutter als überfürsorgliche Figur wird gern im Horrorfilm, etwa in Der Babadook (2014) oder We Need To Talk About Kevin, (2011) dekonstruiert – Missing erreicht dies durch das gesichtslose Digitale.

Die Medienpräsenz des Paares geht also nach hinten los. Einer der Berichterstatter sagt, er wollte wirklich ein guter Journalist sein – aber irgendwo auf dem Weg habe er einen Fehler gemacht. Es ist schwer, diesen Fehler zu finden, doch er hat recht: Anstelle ehrlicher Berichterstattung schleicht sich da immer mehr die unsichtbare, Klatschpressen-artige Hand ein. Sie lenkt den Fokus immer wieder vom vermissten Kind auf sensationelle Themen wie den spielsüchtigen Bruder. Getrieben von den hassnachrichtenschreibenden Zuschauerinnen und Zuschauern: Die Maschine füttert sich selbst.

In manchen Szenen könnte man Regisseur Yoshida eine morbide Faszination unterstellen, wenn er den nächsten Ziegelstein auf den Schultern der Opfer platziert; doch nie ist er dabei übergriffig oder ausbeuterisch. Missing ist ein interessantes Doppelwerk, sowohl als Genre- als auch als Diskurswerk. Im Q&A nach der Vorführung bei der Nippon Connection 2024 brodelte der Saal voller hochgerissener Hände. Keine einzige bezog sich auf das vermisste Kind. Genau das zeigt die eindrucksvolle Journalismuskritik des Films, wenn diese sogar in der Lage ist, das eigentliche Thema zu verdrängen. Neben Tränen durch die Thematik, Kritik durch den Inhalt, ist es letztlich trotzdem die Ästhetik des Verlustes der Zeit, die noch lange im Gedächtnis bleibt. „Ich wollte Menschen gefroren in der Zeit abbilden” — damit beschloss Yoshida sein Interview.

Ein kleines Mädchen verschwindet spurlos, während seine Mutter Saori ein Konzert besucht. Der Fall bleibt ungelöst, doch auf Social Media verbreiten sich Gerüchte über Saori, dass sie mitschuldig am Verschwinden ihrer Tochter sei. Nach Jahren rollt ein lokaler Fernsehsender die Geschehnisse wieder auf. Die erneute mediale Aufmerksamkeit ist eine Zerreißprobe für die Familie, die unter dem Druck endgültig auseinanderzubrechen droht. (Quelle: Nippon Connection)

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