Der coolste Reißverschluss aller Zeiten. (2024)

laut.de-Kritik

Der coolste Reißverschluss aller Zeiten.

Review von Giuliano Benassi

New York, Herbst 1993. Am Broadway nördlich vom Greenwich Village befindet sich ein leer stehendes Grundstück, in einen Parkplatz umfunktioniert, auf dem samstags ein Flohmarkt stattfindet. An der Straße steht ein Dieb, der versucht, eine gestohlene Kamera an den Mann zu bringen. Die Stände hinter ihm bieten den üblichen Kram an, stapelweise alte Magazine, zerfledderte Bücher, ausgelatschte Schuhe. Einer hat Tausende Schallplatten im Angebot, in Kisten gepackt, alphabetisch sortiert.

Es ist die Hochzeit der Compact Disc. MP3 ist noch ein Begriff für Computernerds, bezahlbare Kopiermöglichkeiten außer der guten alten Kassette gibt es keine. LPs gelten als total uncool und sind zur Ramschware verkommen. Entsprechend steht auf einem Pappschild: "Each record 3 $".

Bruce Springsteens Bühnen-Feuerwerk "Live 1975-85" lächelt mich an. Eine Box mit fünf LPs, die nach kurzer Inspektion offenbar noch nie abgespielt wurden. "Make it five Dollars", meint der Verkäufer. Ein Glücksgriff, auf den gleich ein weiterer folgt. Denn unter "R" steht ganz vorne "Sticky Fingers". US-Originalausgabe samt Reißverschluss. Mit deutlichen Gebrauchsspuren, aber mindestens das zehnfache der 3 Dollar wert, die ich dafür hinblättere. Als ich sie zu Springsteen in die Plastiktüte stecke, muss ich aufpassen, The Boss' Antlitz nicht mit dem Reißverschluss zu verkratzen. Als ich sie andersrum reinstecke, reiße ich die Tüte auf.

So geht es einigen, die die Platte 1971 kaufen. Es soll auch Läden gegeben haben, die sie gar nicht erst ins Sortiment genommen haben, aus Furcht vor Beschädigungen. Verantwortlich dafür ist Andy Warhol, der 1967 die ikonenhafte Banane auf das Cover von Velvet Undergrounds Debüt platzierte. Zwei Jahre später erhält er einen Auftrag von Mick Jagger. "In my short, sweet experience, the more complicated the format of the album, e.g. more complex than just pages or fold-out, the more f*cked up the reproduction and agonising the delays", erklärt der Sänger 1969 in einem Brief.

Daraus geht hervor, dass das Cover ursprünglich für ein Best Of-Album vorgesehen ist, doch es kommt anders. 1970 trennen sich die Stones von Management und Label und nehmen das Zepter selbst in die Hand. In erster Linie Jagger, der nicht zufällig Warhol im selben Brief auffordert, ihm seinen Preis zu nennen. Parallel gibt der geschäftstüchtige Frontmann auch ein Logo in Auftrag, das die Stones auch ohne Schriftzüge erkennbar machen soll. Das Ergebnis ist der Mund mit der ausgestreckten Zunge, der seitdem von jedem T-Shirt der Band prangt.

Warhol nimmt die Vorgaben zum Anlass, seine künstlerischen Freiheiten auszudehnen. Der Reißverschluss entwickelt sich bei Cover-Herstellung und Albumvertrieb zum Albtraum. Das sich deutlich abzeichnende Geschlechtsorgan sorgt für einen handfesten Skandal, wobei sich unter dem Reißverschluss, der sich ja öffnen lässt, eine züchtige weiße Unterhose verbirgt. Bald verschwindet sie ebenso wie der echte Reißverschluss, denn spätere Pressungen sind nur noch mit einem schnöden Foto des Kunstwerkes versehen.

Ihr vermutlich bestes Album haben die Rolling Stones 1968 mit "Beggar's Banquet" abgeliefert, ihr vielseitigstes folgt ein Jahr später mit "Exile On Main Street". Doch auch "Sticky Fingers" ist ein grundlegendes Album, ist es doch das erste mit Mick Taylor als Vollmitglied und auch das erste ohne Beiträge des verstorbenen Brian Jones. Musikalisch pendelt es zwischen dem Blues der 60er Jahre und den Drogenexzessen, die bald folgen.

Die wirken offenbar noch nicht so bedrohlich, wie sie sich später auswirken sollten. Der Opener "Brown Sugar" ist nichts anders als ein Lobgesang auf Sex in verschiedenen Ausprägungen - und Heroin. Der Refrain "Brown sugar, how come you taste so good / Brown sugar, just like a young girl should" ist Jagger in späteren Jahren so peinlich, dass er aus dem Mädchen einen Jungen macht. Die Stelle mit dem Auspeitschen seiner Geliebten streicht er ganz. Trotzdem bleibt er einer der besten Songs der Stones, zumal Richards hier eines seiner knackigsten Riffs abliefert.

Mit dem folgenden "Sway" feiert Mick Taylor einen gelungenen Einstand. Nicht nur schreibt er den Song (obwohl er offiziell von Jagger/Richards stammt), sondern steuert auch die Soli in der Mitte und zum Schluss bei. Eigentlich handelt es sich um eine langsame Blues-Nummer, die mit Streichern und Nicky Hopkins am Piano angereichert ist. Es ist eines jener Stücke auf dem Album, die scheinbar einfach aufgebaut sind, bei genauem Hinhören jedoch vielschichtig ausfallen.

Die Credits erwähnen, dass die Abmischung der Aufnahmen "zwei Millionen Stunden" gedauert habe. Auf einer Demo-Version von "Brown Sugar" war etwa Eric Clapton beteiligt, der in der Endversion aber nicht mehr zu hören ist. Zu "Wild Horses" bleibt nicht viel zu sagen – außer, dass es das "Let It Be" der Rolling Stones ist und damit bei jeder Tour Feuerzeugherstellern einen zweistelligen Umsatzzuwachs beschert.

Viel interessanter fällt "Can't You Hear Me Knocking" aus, das mit über sieben Minuten längste Stück des Album. Zunächst geprägt von Richards' wie immer leicht scheppernder Gitarre, übernimmt nach einem Drittel Bobby Keyes am Saxophon, bevor Taylor das letzte Drittel schultert. Der Beweis, dass die Stones auch durchaus hörenswert jammen konnten. Dass ihnen auch der traditionelle Blues lag, zeigen sie mit dem Traditional "You Gotta Move", der mit einem jaulenden Jagger besticht und den Slide-Gitarren von Taylor und Richards, die sich bestens ergänzen.

Eine Vielseitigkeit, die sich auf der zweiten Seite des Albums fortsetzt. "Bitch" steht zwar im Schatten von "Brown Sugar", ist vom Groove her aber ebenbürtig. "I Got The Blues" fällt mit seiner sehr einfach gezupften Gitarre eine Spur zu schnulzig aus, hebt aber das folgende "Sister Morphine" umso mehr hervor. Ein Überbleibsel aus den Aufnahmen zu "Let It Bleed" (1969) und eine Co-Arbeit mit Marianne Faithfull, die den Text geschrieben hat.

"Please, Sister Morphine, turn my nightmares into dreams / Oh, can't you see I'm fading fast? / And that this shot will be my last" fleht ein Süchtiger. "Oh, I can't crawl across the floor / Ah, can't you see, Sister Morphine, I'm trying to score". Eines der Drogen-Lieder schlechthin. Mit einer grandiosen Slide-Gitarre, die übrigens nicht von Mick Taylor stammt, sondern von Ry Cooder.

Auf "Dead Flowers" ist der Einfluss von Richards' Kumpel Gram Parsons, der zwei Jahre später an seiner Heroin-Sucht sterben sollte, deutlich herauszuhören. Zwar galt der Song mit seinem Country-Rock lange als B-Ware, doch die sarkastischen Lyrics ("You can send me dead flowers every morning / Send me dead flowers by the mail / Send me dead flowers to my wedding / And I won't forget to put roses on your grave") machen es zu einem der besseren der Band.

Die abschließende Ballade "Moonlight Mile" kommt ohne Richards aus, bietet dafür Streicher und einen seltenen Einblick in Mick Jaggers' Innenleben. "The sound of strangers sending nothing to my mind / Just another mad mad day on the road / I am just living to be lying by your side / But I'm just about a moonlight mile on down the road", jammert er. Herr Jagger hat den Blues - diesmal offenbar wirklich.

Die LP verschenkte ich ein paar Jahre später an einen Kumpel, der ein großer Rolling Stones-Fan war und Tränen in den Augen hatte, als er sie in den Händen hielt. Seitdem begnüge ich mich mit einer Limited Edition CD-Version, die ich in einem Second-Hand-Plattenladen in Paris aufgestöbert habe. Nicht ebenbürtig, aber in seinem Plastikkäfig kann der Reißverschluss wenigstens keinen Schaden anrichten. Das Kratzen der Nadel in den Rillen fehlt mir. Die Musik an sich aber bleibt zeitlos.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Der coolste Reißverschluss aller Zeiten. (2024)
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Author: Francesca Jacobs Ret

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